Das gemeinsame deutsch-französische Geschichtsbuch wird zehn Jahre alt. Bis heute wird es an den Schulen beider Länder kaum verwendet.

„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“ Dieses Zitat von Wilhelm von Humboldt ist zwar schon 200 Jahre alt. Doch für die deutsch-französischen Beziehungen ist es bis heute hochaktuell. Um die Zukunft zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern weiter zu verbessern, haben Menschen aus beiden Ländern vor zehn Jahren eine Initiative ganz im Humboldt’schen Sinne gestartet: Sie wollten ein gemeinsames deutsch-französisches Geschichtsbuch herausbringen.

Guillaume Le Quintrec ist Geschichtslehrer und Lehrbuchautor in Paris. Er hat das Projekt des deutsch-französischen Buches mit initiiert. „Dieses Buch ist von Anfang an ein Wagnis gewesen“, sagt er. Es sei schon schwierig genug, ein einziges umfassendes Geschichtsbuch allein für Deutschland zu verfassen. Daher sei die Idee absurd gewesen, zu glauben, dass ein deutsch-französisches Geschichtsbuch „so einfach“ zustande kommt.

So einfach? Es entsteht fast der Eindruck, als würde Le Quintrec meinen, man habe das Vorhaben auf die leichte Schulter genommen. Aber so ist es nicht gewesen. Die Autoren waren sich bewusst, dass sie viele Probleme lösen müssen, z.B. die Frage, ob eine gemeinsame Geschichte entstehen kann, wenn manche Hintergründe verschleiert werden. Die Antwort darauf lautet: Unmöglich. Deshalb haben sich die Autoren des deutsch-französischen Buches für eine möglichst offene Herangehensweise entschieden. Mit Betonung auf „möglichst“, weil die Wahrheit wehtun kann. So sieht es Guillaume Le Quintrec.

Histoire Geschichte

http://www.nathan.fr/manuelfrancoallemand/include_rub3-new.asp

Zum vierzigsten Jubiläum des Élysée-Vertrags zwischen Deutschland und Frankreich entwickelte das deutsch-französische Jugendparlament das Konzept eines Geschichtsbuches für beide Länder. Historiker und Schulbuchexperten beider Länder begannen daraufhin konstruktive Gespräche. Zunächst machten sich die Experten die Hürden und Grenzen ihrer Arbeit bewusst, etwa das föderale System Deutschlands. In Deutschland wäre der ehrgeizige Wunsch nach einem einheitlichen Bildungsprogramm aussichtslos, da der Föderalismus jedem der 16 Bundesländer Autonomierechte gewährt. Darüber hinaus würde es sicher ein Jahrzehnt oder noch länger dauern, ein Geschichtsbuch herauszugeben, das detailliert auf 16 Bundesländer eingeht. Deshalb kristallisierte sich schon zu Beginn der Zusammenarbeit der Plan heraus, das deutsch-französische Geschichtsbuch inhaltlich eher dem französischen Programm anzupassen.

Innerhalb von fünf Jahren, von 2006 bis 2011, entstanden so drei Bände: angefangen vom Wiener Kongress im Jahr 1815 über die zwei Weltkriege bis hin zur Gegenwart. Allerdings sind die tiefen Zusammenhänge und die langen Satzbaustrukturen, die im Geschichtsbuch sichtbar werden, eher Fingerabdrücke der Deutschen. In Frankreich verwendet man bevorzugt viele Bilder mit kurzen Erklärungen, um den Schülern den schnellen Rückblick zu erleichtern.

Die Bilanz aus heutiger Sicht ist ziemlich ernüchternd. In Deutschland wird das Geschichtsbuch nur als Ergänzung betrachtet. Und auch in französischen Gymnasien verzichten die Geschichtslehrer meist komplett darauf. Mit verantwortlich dafür sind die Schulprogramm-Reformen, die in Frankreich oft vorgenommen werden. Siegfried Steiner ist Geschichtslehrer im „Lycée Français“ (dem französischen Gymnasium in Berlin) und sagt: „Es ist schade, dass das Buch in den französischen Schulen nicht mehr benutzt wird. Denn abgesehen von den Überblicken über die Geschichte Frankreichs und Deutschlands liefert es auch Einblicke in die Schwierigkeiten bei der Fertigstellung des Buches. Dies macht meiner Ansicht nach die Einzigartigkeit des Buches aus.“

An den Stellen, an denen die Meinungen deutscher und französischer Experten auseinandergegangen sind, hat man Kompromissen Platz eingeräumt. Es soll deutlich gesagt werden, wo es nicht funktioniert. Das gemeinsame Buch ist insofern zwar das Ergebnis eines Austauschs, reflektiert aber auch, wie die gemeinsame Geschichte unterschiedlich wahrgenommen wird.

„Der Versuch, seine Fehler zu erkennen und wieder gutzumachen, sollte nicht nur die Deutschen beschäftigen, sondern auch uns in Frankreich. Denn wir haben auch eine Kolonialgeschichte: Wir haben in Algerien Krieg geführt! Und in keinem Geschichtsbuch wird dieses Kapitel unserer Geschichte richtig und ehrlich dokumentiert.“, so Guillaume Le Quintrec.

Das deutsch-französische Geschichtsbuch ist also im Hinblick auf seinen Erfolg eher misslungen. Dennoch: Loben kann man nicht nur den Tatendrang der beteiligten deutschen und französischen Historiker, sondern auch ihren ehrlichen Umgang miteinander.

Von Clément de Dravo