Sechs Kinder stehen hoch konzentriert um einen Tisch herum. Sie nehmen Eier und schlagen sie auf. Jedes Kind will mitmachen. Und irgendwie gelingt es ihrer Lehrerin Virginie, jeden einzelnen zu berücksichtigen. „Lukas, qu’est-ce que tu fais? “ („Was machst du gerade? “), fragt Virginie. „J’essaie de mélanger le lait avec le sucre“, („Ich versuche, Milch mit Puderzucker zu schlagen“). „Très bien!“, erwidert die Lehrerin.
Virginie ist zufrieden. Nicht nur, weil Lukas die Aufgabe gut verstanden hat, sondern vor allem, weil er in perfektem Französisch ihre Frage beantwortet hat. Virginie ist Französin und gelernte Sportlehrerin. Als sie vor 13 Jahren mit ihrem Mann nach Berlin kam, wurde jedoch ihr französischer Abschluss nicht anerkannt. Ab und zu bekam sie Aufträge in Gymnasien und Schulen als Sportlehrerin, aber keinen festen Vertrag. Irgendwann dachte sie: „Ich muss mich umorientieren“. Virginie machte erneut eine Ausbildung, um in Deutschland Französisch unterrichten zu können. Sie arbeitete danach in Kindergärten und gab Unterricht an Schulen und Universitäten in Berlin.
Doch dann hatte sie die Idee, etwas völlig Neues zu probieren: Sie gründete ihre eigene Sprachschule. „Comme un poisson dans l’eau“ – „Wie ein Fisch im Wasser“ heißt ihr Schulprojekt, das sofort Zustimmung gefunden hat. Anstatt an der Schule zu unterrichten, lädt Virginie die Schüler ein, bei ihr zu Hause oder in einer für den Unterricht gemieteten kleinen Wohnung „ein französisches Sprachgefühl“ zu entwickeln.
Dieses Sprachgefühl wird zum Beispiel durch Gymnastik vermittelt. Dabei lernen die Kinder den menschlichen Körper kennen: die Statur, den Ellbogen, das Knie, die Wade. Oder sie begegnen in Büchern Märchenfiguren, etwa Schneewittchen und den sieben Zwergen.
Die Schüler Virginies sind zwischen zwei und elf Jahre alt und werden nach Alter und Sprachniveau aufgeteilt. Es wird durchgehend Französisch gesprochen. „Würde ich nur ein einziges Wort auf Deutsch sagen“, erklärt Virginie, „würden die Kinder nur noch Deutsch mit mir sprechen wollen.“
Und es klappt in der Tat. Sobald die Kinder merken, dass die Lehrerin auf Französisch redet, stellen sie sich darauf ein. Innerhalb von einem bis zwei Jahren können die Kinder der Sprachschule fast perfekt Französisch, „comme un poisson dans l’eau“.
Aber heute gilt es nicht nur, Französisch zu sprechen: Die Kinder wollen ihre Eltern stolz machen. Nach dem Unterricht kommen die zu Besuch, um den selbst gebackenen Kuchen à la française zu probieren: La Galette des Rois. Also wehe, wenn etwas schief geht.
Zu ihrer cremigen Kombination aus Milch, Eier und Zucker fügen die Schüler nun Blätterteig, Butter und Puderzucker hinzu. Sie vermischen das Ganze und rühren es minutenlang. Aus dem auf 180 Grad geheizten Ofen zieht Virginie nach fast einer Stunde Vorbereitung und Backen „La Galette des Rois“ heraus – und die ganze Klasse ist froh.
Von nun an wissen Virginies Schüler, dass „La Galette des Rois“ in den Sitten Frankreichs verankert ist. Dass es um einen Kuchen geht, der am 6. Januar anlässlich des Dreikönigstages gegessen wird. In der „Galette“ wird eine „fève“ (eine dicke Bohne) versteckt. Und der- oder diejenige, der sie ausfindig macht, wird zum König des Tages auserkoren. Und alle haben ihren französischen Wortschatz erweitert – und die Kultur Frankreichs näher kennengelernt.