Thierry Noir kam in den 80ern aus Lyon. Er hatte in Frankreich nicht viel zu verlieren und ließ sich nur zu gerne vom Sog West-Berlins nach Osten ziehen. David Bowie und Iggy Pop waren da und eine ganze Menge „genialer Dilettanten“ wie sie auch genannt werden. Noir nennt sie Leute, „die nicht wussten, wohin sie wollten.“ So wie er. Und deshalb blieben. So wie er. Ein deutsch-französisches Gespräch über die Kunst im Leben Berlins und die Kunst, mit der Melancholie einer von Mauern umgegebenen Stadt zu leben.
Monsieur Noir, warum sind Sie nach Berlin gekommen?
Ich bin nach Berlin gekommen, weil es auf eine Art notwendig war. Denn ich schaffte es damals nicht, mein Leben in Frankreich zu regeln. Ich hatte einen kleinen Job nach dem anderen und immer wurde ich gefeuert. Am Anfang war das noch irgendwie lustig, aber ich musste etwas ändern, denn auf Dauer konnte das so nicht weitergehen. Im Fernsehen sprachen sie damals viel über Berlin. Berlins Regierender Bürgermeister, Richard von Weizäcker, wollte die besetzten Häuser räumen lassen und die Athmosphäre war mit Gewalt aufgeladen. Dazu gab es damals die Neue Deutsche Welle, la Nouvelle Vague, Bijoux, Starsshooter und, natürlich, David Bowie und Iggy Pop. All das lockte mich. Ich war jung und zog mit meinen zwei Koffern los. Das war übrigens an einem 22. Januar, dem Tag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags. Ich hatte kein Rückfahrtticket, also blieb ich. In Berlin waren viele wie ich angekommen. Leute, die nicht wussten, wohin sie wollten.
Als Sie 1982 in Berlin ankamen, waren da nur Künstler um Sie herum. Ist Berlin 30 Jahre später noch immer die Hauptstadt der Kunst?
Ich glaube, dass die meisten noch immer Künstler sind. Das ist das schönste an dieser Geschichte, dass die Bewegung so stark war, dass die Leute noch heute davon leben können – so wie ich auch, 30 Jahre danach. Das Geheimnis dieses Erfolgs: einfach weitermachen mit dem, was man Jahre zuvor begonnen hat. Geändert hat sich, dass Berlin, was das betrifft, nicht mehr die Insel ist, die es früher war. Aber das künstlerische Milieu ist trotzdem ein bisschen das gleiche geblieben, nur die Generationen haben sich geändert. Der Geist von Berlin ist unverändert: Mit nichts kannst du alles machen. Ich glaube, dass das die Botschaft von Berlin ist. Selbst wenn du kein Talent und kein Geld hast, kannst du immer noch eine Menge Sachen machen. Nichts ist verboten.
Sie wollen sagen, dass die Zeit, die Umstände, aus Ihnen einen Künstler gemacht hat?
Damals waren alle Künstler. Das war unsere Art, in der Melancholie dieser von Mauern umgebenenen Stadt zu überleben. Und was war, wirkt heute noch immer.
Hat das Berlin dieser Zeit aus Ihnen einen Künstler gemacht?
Aber sicher. Ich bin nicht nach Berlin gekommen, um Künstler zu werden. Das ist einfach so passiert. Ich stellte fest, dass alle um mich herum Künstler waren. Und ich wollte nicht der einzige Idiot in der Stadt sein. Also hab ich denen gesagt: Ich bin auch Künstler. Voilà, so war das. Und ich habe angefangen, alles mögliche zu machen, um den anderen zu zeigen, dass ich auch ein Künstler bin, obwohl ich in Frankreich nie etwas derartiges gemacht habe. Dass das alles passierte, war mehr oder minder Zufall. Ich wohnte direkt vor der Mauer. Ich sah sie Tag und Nacht. Das war sehr bedrückend. Es war kein Kunstwerk, die Mauer. Wenn wir auf die Toilette mussten, sah man durch das Fenster die Soldaten, die uns durch das Fernglas beobachteten. Um mich aus dieser bedrückenden Situation zu befreien, habe ich dann angefangen zu malen. Das ist einfach passiert, ich bin ja nicht nach Berlin gekommen, um Mauer-Maler zu werden.
Haben Sie sich eigentlich im Recht gefühlt, ein so starkes Symbol wie die Mauer zu attackieren?
Ja, weil die Mauer für die Deutschen ein Tabu war. Der große Teil der Berliner kam niemals, um sie anzuschauen oder höchstens einmal pro Jahr mit der ganzen Familie, um sie mal her zu zeigen. Auch die deutschen Künstler wollten sie niemals bemalen. Wir waren die ersten, die die großen Gemälde gemalt haben. Am Anfang hat das alle schockiert. Die Leute waren aggressiv. Sie wollten wissen, wer uns finanziert, wer hinter uns steht, wer uns manipuliert.
Warum sind Sie nach dem Fall der Mauer nicht zurückgekehrt ? Hatten sie nicht das Gefühl, dass die Mission erfüllt war?
Ich hatte nie die Zeit, mir diese Fragen zu stellen. Ich habe viele Interviews gegeben, war sehr beschäftigt über die Jahre und die Leute wollten meine Gemälde haben. Ich hab dann sogar einen Trabi für U2 zeichnen müssen.
Hat Berlin Ihr Leben verändert?
Berlin hat mein Leben verändert, weil ich hier von meiner Arbeit leben konnte, ohne einen Chef, der mir sagte, was ich zu tun habe. Das war immer mein Traum. Das ist einer der Gründe, warum ich in Berlin geblieben bin. Und dann habe ich eine Familie gegründet und es wurde schwieriger zurückzukehren. Heute könnte ich nicht mehr nach Frankreich zurückkehren. Ich fühle mich ein bisschen fremd in beiden Ländern. Das ist schon seltsam.
Was ist Frankreich für Sie heute?
Frankreich, das ist mein Land. Ich hab immer noch meinen französischen Pass, ich höre Radio, ich schaue französisches Fernsehen. Frankreich ist eine Abwechslung von Deutschland.
Glauben Sie, dass es für Ihre Kunst in Frankreich keinen Platz gäbe?
Wäre ich in Frankreich geblieben, hätte ich nie im Leben ein Gemälde gemacht. Das ist ziemlich sicher. Lyon war zu der Zeit, als ich es verließ, sehr bürgerlich, alles drehte sich um die Gastronomie. Die Leute fuhren auf ihrer Reise in den Süden nur an Lyon vorbei. Das war alles.
Was ist Deutschland für Sie heute?
Deutschland ist das Land, in dem ich lebe.
Was bedeuten Ihnen die Bilder von Hollande und Merkel zum Jubiläum des Élysée-Vertrages?
Ich hab das nicht verfolgt. Das sind immer nur zwei Personen, die regelmäßig ausgetauscht werden. Davor waren es Schröder und Chirac, Mitterand und Kohl. Für mich sind die Leute wichtiger als die Politiker.
Sind Sie Deutscher oder Franzose?
Ich bin Europäer. Europa das ist mein Land. Ich kann überall in Europa sein und bin doch bei mir. Ich bin nirgendwo Ausländer.
Wenn Sie ein Bild der deutsch-französischen Freundschaft malten, wie wäre das?
Ich würde zwei große Köpfe malen, die sich gegenseitig betrachten. Einer in den Farben Frankreichs, einer mit den Farben Deutschlands, an der Grenze am Rheinufer.
Und haben Sie David Bowie am Ende getroffen?
Einmal, per Zufall. Das war im Dschungel, Szenedisko in den 80er Jahren. Er ist ganz schön klein, David Bowie. Er ging auf Toilette mit zwei großen Bodyguards, zwei mal ein Meter. Ich hab mir dann gedacht: Kann man als berühmter Mensch also nicht mehr alleine auf die Toilette gehen? Das hat mich wirklich geschockt, David Bowie so zu sehen.
Interview: Marie Perrin und Stefan Küpper